Bevor ich mich hier zu Nietzsches Schriften äußern kann, muss
ich gestehen, dass ich den Berg aus Vorurteil und daraus resultierender
Abneigung, der mir als nicht zu bewältigendes Hindernis den Zugang
zu ihnen versperrte, nur mit Hilfe eines ausgezeichneten Freundes überwinden
konnte. Die Idee von Nietzsche als dem Züchter des Übermenschen,
dem Frauenfeind und dem Ideologen der Nazis war mir beigebracht und anerzogen,
und es bedurfte eines wirklich starken Antriebes, ihn unbefangen zu lesen.
Inzwischen allerdings möchte ich ihn in meiner Bibliothek nicht mehr
missen. Es macht Spaß, Nietzsche beim Denken zuzuhören. Man
hört ihn wirklich, wenn man ihn liest. Wer immer Nietzsche als den
Poeten unter den Philosophen bezeichnet hat : er hatte recht. Nietzsche
macht keinen Hehl aus sich. Es sind seine Gedanken, die hier
erscheinen, und es sind seine Worte, sie sich hier Gehör
verschaffen. Worte, die in die Tiefe dringen und bis in die Ferne reichen;
die aus der Tiefe und ganz nah heran kommen. Erkenntnisse und Ideen eines
Denkers, der den Mut hat, an Jahrtausende alten Holzwegen zu nagen und
Visionen zu zeigen, in denen sich der mangelhafte Mensch zu Größe
erhebt; zu einem Menschen wird, der die ganze Dummheit des zwanghaft Verkleinernden
abgelegt hat, um zu einem Über-Menschen zu werden. Oder, um das leidige
Wort zu vermeiden: Zu einem weiter- und fortentwickelten, zu einem selbständigen
Menschen.
"Oh Voltaire! Oh Humanität! Oh Blödsinn!"
Darf ein Philosoph so reden?
Nietzsche tut es. Er kritisiert, zeigt mit dem Finger, er schimpft und
wettert, er entblößt und stellt ins Licht, und er tut all dies
nicht nur mit klugen Worten sondern auch mit fantastischer Treffsicherheit,
die ihn Werte und Wunden gleichermaßen zielgenau entdecken lässt.
Dass er dabei so herrlich kompromisslos ist; so ganz und gar unangekränkelt
vom endlosen Beziehungsweise, vom Andererseits; macht seine Texte ungemein
erfrischend. Er schert sich nicht um Rück- und Vorsichten. Er fischt
im grauen Daseinstopf nach Schwarz und Weiß, begreift die Gegensätze
und lässt sie als Gegensätze bestehen. Wohl hat man manchmal
das Gefühl, Nietzsche widerspräche sich selbst. Doch eigentlich
fällt es nicht schwer zu merken, dass er dann am selben Gleichnis
von anderen Dingen spricht. Wer sich aufgeweicht und angefressen
fühlt von ewiger Dialektik, vom esoterischen Wurm der All-Einheit,
von fader Zauberkunst auf Quantenniveau, der wird in Nietzsches Schriften
eine wohltuende Kur finden; der wird lachen, froh über die Erkenntnis,
wie gut es tut, endlich wieder eine eigene Meinung haben, endlich wieder
selbst, auch endlich wieder ein bisschen radikal sein zu dürfen.
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